Das Sinnbild des Ikarus: Utopie
Schoro Pak
Die vorliegende Arbeit möchte anhand der Analyse der Ikarus-
Gedichte von Günter Kunert und einiger Schriften von Wolf Biermann zwei gegensätzliche Positionen zur Utopie verdeutlichen. Kunert
versteht die mythische Figur des Ikarus als einen Prototyp, welcher, sich blind an den naturwissenschaftlichen Fortschritt klammert und auf diese Weise versucht, etwas Unmögliches möglich zu machen.
Deshalb stellt Kunert den Ikarus in seinen Werken häufig als Flieger dar, der nach einem lebensgefährlichen Flug im Endeffekt den Tod
findet. Kunert übt so Kritik an der Intention derer, die um eines
lukrativen Interesses willen die Natur und das Weltall erobern
wollen. Er hegt gegenüber der Utopie Aversionen. Ideale seien
durch die schlechte Praxis und (oder?) durch die Praxis der
Schlechten hinweggezaubert worden. Die weltweite Zerstörung des Ökosystems sei beispielsweise letztlich auf die Hybris der
Menschheit zurückzuführen, und zwar auf den menschlichen
Hochmut, der auf sein instrumentelles Denken stolz sei.
Im Unterschied zur pessimistischen Weltanschauung Kunerts sieht
Wolf Biermann bis zum Zeitpunkt der deutschen Vereinigung für die Zukunft nicht schwarz. Nach seiner Meinung könne Ikarus mit einem schöpferischen Dichter bzw. einem Revolutionär verglichen werden.
Ikarus sei ein preussischer Dichter, der wagemutig sein Gefängnis
durchbricht, indem er sein Land verlässt. Biermann folgt hier
offensichtlich der Ikarus-Interpretation von Horaz, derzufolge
Ikarus künstlerisch als ”canorus ale“ dargestellt ist. Nicht ohne
Grund sieht er im Unglück des Ikarus Lebensspuren des Rudi
Dutschke. Biermann scheint sich einerseits mit dem Dädalus zu
identifizieren, der dem Tod seines verlorenen Sohns nachtrauert.
Andererseits entdeckt er einige Ursachen für das Scheitern der
europäischen Linken: das Machtinteresse der Konservativen, der
völkerrechtliche, religiöse Sezessionismus in Westeuropa und die
Sehnsucht nach dem Faschismus vor allem im vereinigten
Deutschland.
Kunert plädiert nach wie vor für die Resignation, während
Biermann nicht daran verzweifelt, dass Utopien niemals eingelöst
worden seien. Zwei verschiedene Haltungen, die im Grunde wie
die beiden Seiten einer Münze sind, wenn man den Untergang des
real-existierenden Sozialismus und dessen Folgen in Rechnung
stellt. Die gängige, saturierende Tendenz Europas scheint keine
plausiblen Motive für die konkrete Utopie im Sinne von Ernst Bloch
zu bieten. Eines ist klar: das utopische Denken als Ferment für
gesellschaftliche Veränderungen wirkt solange fort, wie man lebt.
Dementsprechend wurde und wird vom Sinnbild des mytischen
Stoffs Ikarus weiterhin Gebrauch gemacht.
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